Die Entwicklung tiefer Einsicht (skr. Vipashyana, tib. Lhagthong)

PrajnaparamitaVipashyana ist einer der beiden Faktoren, die für die Erlangung der Erleuchtung notwendig sind. Der zweite ist die Praxis von geistiger Ruhe (skr. Shamatha, tib. Shine). Beide Übungen werden im tiefgründigen fünfteiligen Pfad zur Erkenntnis von Mahamudra geübt. Durch die Verbindung von Shamatha und Vipashyana erlangt man die unmittelbare Einsicht in die Leerheit. Dies entspricht dem Erreichen des dritten der fünf Pfade, dem Pfad des Sehens und man gelangt auf die erste Bodhisattva-Stufe.

Als Vipashyana bezeichnet man die Praxis der tiefen Einsicht durch Kontemplation zur Entwicklung der vollkommenen Weisheit (skr. Prajnapramita), wie sie im Herz-Sutra, der Essenz der vollkommenen Weisheit (skr. Prajnāpāramitā Hridaya Sūtra), enthalten ist. Dies beinhaltet das Erkennen der Merkmale aller körperlichen und geistigen Erscheinungen.

Prajnāpāramitā,

jenseits aller Worte, Gedanken und Beschreibungen,

ungeboren, unendlich wie die Natur des Raumes,

nur mit der ursprünglichen Weisheit erfahrbar,

Mutter der Buddhas der drei Zeiten,
vor Dir verneige ich mich.

Im Mahayana-Buddhismus wird Vipashyana als analytische Überprüfung des Wesens der Dinge, die zur Einsicht in die Leerheit (skr. Shunyata) führt, aufgefasst. Diese Einsicht verhindert das Entstehen neuer Leidenschaften, da diese aus der Unwissenheit hervorgehen.

In Achtsamkeitsübungen, die in Verbindung mit der Übung der geistigen Ruhe (skr. Shamatha, tib. Shine) stehen, wird die nicht-wertende, reine Beobachtung geübt. So kann sich der Geist beruhigen und von alten, leidbringenden Gewohnheiten des Denkens, Redens und Verhaltens lösen. Die Übungen bestehen in der Betrachtung des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der Sinnesobjekte. Die Bedeutung dieser Praxis liegt darin, störende und irreführende Vorstellungen aufzulösen. Diese Vorstellungen bestehen darin, dass wir den Körper als etwas Selbst-existierendes und Beständiges wahrnehmen, Gefühle als verlässlich und konkret empfinden, den Geist als eine starre Einheit und die Sinnesobjekte als ausschließlich äußerlich und unabhängig betrachten.

AvalokiteshvaraDurch das genaue Beobachten gewinnen wir eine neue Sichtweise in Bezug auf die Vorstellung der Person und der Phänomene, die uns eine realistischere Einstellung ermöglicht. Daraus können eine neue, klarere Vorstellung der Welt und ein liebevollerer Umgang mit sich selbst und anderen entstehen. Reines Beobachten ist allerdings noch nicht genug, tiefe Einsichten ergeben sich erst dann, wenn wir unsere Erfahrungen richtig deuten und anwenden können. Um unser Verständnis zu vertiefen, gibt es entsprechende Kommentare und Erklärungen zu den verschiedenen Stufen der Übungen.

Die Erklärungen zu diesen Methoden können wir auch als Kommentare zum Herz-Sutra verstehen, da damit der Übungsweg zur Entwicklung tiefer Einsicht und Erkenntnis aufgezeigt wird.

Im Herz-Sutra sagt der edle Avalokiteshvara zum ehrwürdigen Shariputra:

„Oh, Shariputra, welcher Sohn oder welche Tochter aus guter Familie auch immer der tiefgründigen Übung der transzendenten Weisheit zu folgen wünscht, sollte es so betrachten, dass er oder sie die fünf Skandhas analysiert, die von Natur aus leer sind.

Form ist Leerheit, Leerheit ist Form,
Form ist nichts anderes als Leerheit, Leerheit ist nichts anderes als Form.

Genauso sind Empfindung, Unterscheidung,
gestaltende Faktoren und Bewusstsein Leerheit.

Deshalb, Shariputra, sind alle Erscheinungen Leerheit, ohne Merkmale.

Sie haben weder Anfang noch Ende.

Sie sind weder unrein noch frei von Unreinheit.

Sie nehmen weder ab noch nehmen sie zu.

Deshalb, Shariputra, gibt es in der Leerheit keine Form, keine Empfindung, keine Unterscheidung, keine gestaltenden Faktoren, kein Bewusstsein, […]

Deshalb Shariputra, weil es kein Erreichen gibt,
halten sich alle Bodhisattvas an die transzendente Weisheit.

Und weil es keine Unklarheit des Geistes gibt, haben sie keine Furcht.

Weil sie völlig über die Falschheit hinausgehen, erreichen sie Nirvāna.

Alle Buddhas der drei Zeiten vertrauen auf die transzendente Weisheit
und erwachen dadurch voll und klar
zur unübertrefflichen, vollkommenen und vollständigen Erleuchtung.“

 

Tändsin T. Karuna