Sieben Punkte Geistestraining (tib. Lojong)

Grundlagen zur Umsetzung buddhistischer Praxis und der Anwendung im täglichen Leben

Das ‚Sieben Punkte Geistestraining‘ wurde entwickelt, um das Herz des Dharma, den Erleuchtungsgeist (skr. Bodhicitta) zum Nutzen aller Wesen hervorzubringen. Es ist im tibetischen Buddhismus als ‚Lojong‘ (‚Haltungs’-Training) bekannt und gibt Anweisungen zur Schulung des Geistes. Ein Punkt beinhaltet auch die als ‚Tonglen‘ bekannte Praxis des Gebens und Nehmens.

Worum geht es bei den sieben Punkten der Geistesübung? Für die meisten von uns ist es sehr schwer, unter allen Umständen wirklich intelligent und voll Mitgefühl zu handeln. Unsere eigenen Interessen und die Sorge um unsere eigenen Bedürfnisse beeinflussen uns und bestimmen, wie wir die Ereignisse um uns wahrnehmen und darauf reagieren. Wenn wir sehr stark an unserem Ego haften, wird es uns schwerfallen, unsere Selbstsucht einfach aufzugeben, und unsere Versuche, mitfühlend und intelligent zu handeln, werden unbeholfen sein und Reue oder Schuldgefühle verursachen.

Wenn wir jedoch verstehen, dass dieses Ego ein Trugbild ist, dass das Selbst, an dem wir hängen, in Wirklichkeit nicht existiert, und wir uns – durch Meditation – daran gewöhnen, nicht mehr nur unsere eigenen Interessen zu verfolgen, dann werden wir unsere Selbstsucht leichter aufgeben können. Dies ist etwa so, wie wir einen alten Pullover, der uns ohnehin nicht mehr passt, ohne Bedauern wegwerfen können. Dies bedeutet nicht nur, dass wir toleranter, weniger arrogant, offener und ansprechbarer werden, sondern dass wir aufrichtig in Frieden mit uns selbst leben, dass wir auch in schwierigen Situationen natürlich, glücklich und fröhlich sind, und dass unsere Handlungen weder Bedauern noch ungute Gefühle auslösen.

Deshalb besteht ein größerer Teil des Geistestrainings aus Richtlinien, wie man mit Situationen des täglichen Lebens umgeht. Beständige Meditation und Aufmerksamkeit im Alltagsleben gehen Hand in Hand. Es sind zwei Aspekte einer Übung und nicht zwei Aktivitäten, die nichts miteinander zu tun haben. Wenn zum Beispiel Menschen, die durch diese Methode ihre Übung schon weit entwickelt haben, einem anderen Menschen begegnen, der Sorgen oder Schmerzen hat, können sie sich sofort spontan vorstellen, dass sie das Leiden dieses Menschen auf sich nehmen.

Wenn wir mit beiden Aspekten arbeiten, wird die Gewohnheit, am Ego anzuhaften, von uns fallen und wahre Intelligenz und wahres Mitgefühl – die Realisation von Nicht-Selbst und allumfassendem Mitgefühl – werden an seine Stelle treten.

Die sieben Kapitel sind eine grundlegende Zusammenfassung der Sicht und Anwendung des Mahayana-Buddhismus. Sie beinhalten

1.     Die Vorbereitungen

2.     Die Hauptpraxis – die Schulung des zweifachen Erleuchtungsgeistes (skr. Bodhicitta)

3.     Wie man widrige Umstände in den Pfad einbringt

4.     Die Praxis des Geistestrainings im täglichen Leben

5.     Die Kriterien (Einschätzung/Beurteilung) für die Schulung des Geistes

6.     Die Regeln des Geistestrainings

7.     Die Anweisungen zum Geistestraining

In diesen sieben Punkten sind zahlreiche Ratschläge enthalten, mit denen man seine täglichen Übungen ergänzen und weiterentwickeln kann. Diese Ratschläge werden in 59 Merksätzen kurz und prägnant vorgestellt, die als Werkzeuge in den gewöhnlichen Situationen des Lebens angewendet werden können. Die Merksätze reichen von: (1) Übe Dich zuerst in den Vorbereitungen; über Aussagen wie: (24) Ändere Deine Haltung, aber bleibe natürlich; (34) Belade einen Ochsen nicht mit der Last eines Dso[1]; bis zu der Anweisung: (59) Erwarte keinen Beifall. Die Unterweisungen zu den einzelnen Punkten beschreiben dann, wie die Praxis des Geistestrainings angewendet wird. Die Anleitungen und Ratschläge können uns dabei helfen, eine ausgeglichene Praxis zu entwickeln und die kostbaren Lehren des Buddha in unserem Leben zu nutzen.

Zuerst ist es wichtig, durch die Praxis von Achtsamkeit die richtige Basis zu schaffen. Dann wendet man die verschiedenen Ratschläge nach und nach in der Meditation und auf die Situationen des Alltags an. Sie sind insbesondere dazu geeignet, schwierige Situationen und Hindernisse für die Praxis zu nutzen. Gerade in der heutigen Zeit, in der es viel Verwirrung und Unruhe gibt, ist das Geistestraining für alle hilfreich, die ein spirituelles Leben auf der Grundlage von Weisheit und Mitgefühl führen möchten. Die kurzen Merksätze lassen sich mit Hilfe der entsprechenden Unterweisungen im Alltag anwenden. Übersetzungen und Kommentare in deutscher Sprache können ergänzend zur Meditation und täglichen Umsetzung hinzugezogen werden.

Wer schnellen Schutz für sich und alle anderen wünscht,

soll dieses heilige Geheimnis nutzen,

sich selbst gegen die anderen auszutauschen.

Das Geistestraining bezieht sich auf einen Text, der im 11. Jahrhundert nach Tibet gelangte. Die zahlreichen Instruktionen, die Atisha, ein großer indischer Meister, nach Tibet brachte, wurden von seinen Schülern in diesem besonderen Text in sieben Punkten zusammengefasst. Artikel_LojongZunächst wurden Atishas Unterweisungen geheim gehalten und nur an die nächsten Schüler weitergegeben, die über erprobte Fähigkeiten und ernsthafte Praxiserfahrungen verfügten. Durch Chekawa Yeshe Dorje (1102-1176), für den diese Praxis von besonderer Bedeutung war, fanden sie jedoch eine größere Verbreitung. Schließlich wurden die Lehren über viele Jahrhunderte zur Geistesschulung in allen wichtigen Traditionslinien des tibetischen Buddhismus gelehrt und bis heute praktiziert. Inzwischen kann man viele Quellen großer Meister aus verschiedenen tibetischen Traditionen aus der Vergangenheit und Gegenwart heranziehen, um die einzelnen Punkte zu erklären.

Zusammengestellt von Tändsin T. Karuna

[1] als Mischung zwischen einem Yak und einem Rind ist ein Dso wesentlich kräftiger als ein Ochse