Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einführung
Der Schatz der tiefgründigen Weisheit
1. Bittgebet an die Kagyü-Gurus um den Nebel des großen Segens
Erster Teil: Vajra-Gesänge des Jetsün Milarepa
2. Glück und Leid unterscheiden (=> LESEPROBE siehe unten)
3. Die acht Bardos
Zweiter Teil: Vajra-Gesänge des Erhabenen Jigten Sumgön
4. Vajra-Gesang ‚Das Erlangen der Erleuchtung‘
5. Gesang vom Fünfteiligen Tiefgründigen Mahamudra-Pfad
6. Der Gesang, der Erinnerung klärt
7. Vajra-Gesang bei Tsa-uk, ‚Tsa-uk Dzong Drom‘ genannt
8. Der Gesang über die sechs Arten von Vertrauen
9. Bittgebet an die sieben Taras
Dritter Teil: Leben und Befreiung des Erhabenen Jigten Sumgön
10. Das Leben von Jigten Sumgön
11. Der kostbare Juwelenschmuck
12. Jigten Sumgön: Der zweite Nagarjuna
Anhang
Glossar der Aufzählungen
Glossar der Namen und Begriffe
Ausgewählte Bibliografie
LESEPROBE:
2. Glück und Leid unterscheiden
Die Essenz seines eigenen Geistes erkennend, verwirklicht der Yogi die wahre Natur und ist immer glücklich.
Seiner Täuschung nachlaufend, verstärkt der Praktizierende sein Elend und ist immer leidend.
Im ungekünsteltem Zustand verweilend, ist der Yogi, der die unwandelbare, in sich reine Natur verwirklicht, immer glücklich.
Gefühlen und Gedanken nachjagend, ist der Praktizierende, der achtlos Anhaftung und Ablehnung vermehrt, immer leidend.
Alle Erscheinungen als Dharmakaya erkennend, ist der Yogi, der Hoffnung, Furcht und Zweifel durchschneidet, immer glücklich.
Mit trügerischem Anschein und achtlosen Aktivitäten befasst, ist der Praktizierende, der die acht weltlichen Belange nicht bezwingt, immer leidend.
Alles als Geist erkennend, ist der Yogi, der die Erscheinungen als Stütze nimmt, immer glücklich.
Sein Leben mit Ablenkungen vergeudend, ist der Praktizierende, der zum Zeitpunkt des Todes Reue empfindet, immer leidend.
Gedanken im Entstehen an ihrem eigenen Platz befreiend, ist der Yogi, der in steter Meditationspraxis verweilt, immer glücklich.
Worten und Begriffen nachhängend, ist der Praktizierende, der die Natur seines Geistes nicht erkennt, immer leidend.
Weltliche Aktivitäten verwerfend, ist der Yogi, der frei von Selbstsucht und persönlichen Zielen ist, immer glücklich.
Sich abmühend, Vorräte anzuhäufen, ist der Praktizierende, der mit Familie und Verwandten beschäftigt ist, immer leidend.
Von Anhaften innerlich befreit, ist der Yogi, der alles als eine Illusion betrachtet, immer glücklich.
Auf dem Pfad der Ablenkung weiterschreitend, ist der Praktizierende, der Körper und Rede dafür dienend einsetzt, immer leidend.
Das Pferd eifriger Anstrengung reitend, ist der Yogi, der auf den Pfaden und Bhumis Richtung Befreiung fortschreitet, immer glücklich.
Durch Faulheit gefesselt, ist der Praktizierende, der tief in Samsara verankert ist, immer leidend.
Falsche Behauptungen durch Zuhören und Reflexion durchschauend, ist der Yogi, der zum Vergnügen seinen eigenen Geist erforscht, immer glücklich.
Nur dem Anschein nach den Dharma praktizierend, ist der Praktizierende, der negative Aktivitäten ausführt, immer leidend.
Hoffnung, Furcht und Zweifel hinter sich lassend, ist der Yogi, der stetig im innewohnenden Zustand verweilt, immer glücklich.
Seine Unabhängigkeit anderen opfernd, ist der Praktizierende, der sich einschmeichelt und hofiert, immer leidend.
Alle Wünsche hinter sich lassend, ist der Yogi, der unentwegt den göttlichen Dharma praktiziert, immer glücklich.
Einführung
Dieser Vajra-Gesang wurde von Milarepa, eine der bekanntesten und populärsten Persönlichkeiten der buddhistischen Welt, gelehrt. Er hat mitgewirkt, die Dharma-Praxis fest in Tibet zu verwurzeln. Seit Jahrhunderten bewundern große Meister seine Errungenschaften. Während seines Lebens hatten tausende von Menschen die Gelegenheit, ihn zu treffen, von ihm Segen und Unterweisungen zu erhalten und sich dadurch letztendlich von Samsara zu befreien. Unter ihnen gab es viele große Meister wie den Dharma-Herrn Gampopa und Rechungpa. Der Schüler, dem Milarepa diese besondere Unterweisungen gab, war Lengom Repa. Er erhielt von Milarepa alle wichtigen Anweisungen, praktizierte, was er gelernt hatte, und erfuhr großen Erfolg. Daraufhin sagte er zu Jetsün Milarepa: „Hab herzlichen Dank. Durch Deine Güte und alle Deine Unterweisungen verstehe ich jetzt, was aufzugeben und was anzunehmen ist. Ohne Anstrengung entstehen jetzt gute Qualitäten wie von selbst.“
„Ganz recht“, antwortete Milarepa. „Mein Sohn, ein Dharma-Praktizierender, der den Dharma gemäß den Anweisungen des Buddha ausübt, der gelernt hat, was aufzugeben und was anzunehmen ist, wird stets glücklich sein. Wenn er diese Verhältnisse umkehrt, wird er immer Leid erfahren.“ Selbst Dharma-Praktizierende sollten also nicht das Ziel verfehlen, indem sie nicht wissen, was zu praktizieren ist und Fehler im Namen des Dharma begehen.
Obgleich die Handlungen, die anzunehmen und zu verwerfen sind, vielerorts aufgelistet sind, ist es stets hilfreich, sein Wissen aufzufrischen und die Konzentration auf das Ziel unseres Studiums und unserer Praxis zu stärken. Die zehn unheilsamen Handlungen sind die Ursachen von Leid und bringen Schwierigkeiten, sowohl in der säkularen Gesellschaft als auch im spirituellen Bereich:
- · Anderen Lebewesen das Leben nehmen; direkt oder indirekt Dinge zu nehmen, die einem nicht gehören; und sexuelles Fehlverhalten – dies sind die drei unheilsamen Handlungen des Körpers.
- · Lügen, insbesondere in Hinblick auf spirituelle Errungenschaften, die man nicht hat; entzweiende Rede bzw. Zwietracht säen in einer Gruppe, einer Partnerschaft oder Gesellschaft aufgrund von Eifersucht, Anhaftung oder Hass; verletzende Worte aus Ärger oder Groll; und sinnloses müßiges Geschwätz ohne jeden Nutzen – dies sind die vier unheilsamen Handlungen der Rede.
- · Begehrlichkeit und Gier; Aversion und Groll; falsche Sichtweisen hinsichtlich des Prinzips von Ursache und Wirkung und der absoluten Natur der Wirklichkeit – diese drei beziehen sich auf einen unheilsamen Zustand des Geistes.
Alle zwischenmenschlichen und internationalen Konflikte, alle unerwünschten Situationen und Schwierigkeiten werden durch diese Handlungen hervorgerufen.
Die zehn heilsamen Handlungen sind:
- · Das Leben der anderen achten und schützen, insbesondere das menschliche Leben; Großzügigkeit und Teilen üben; und ethisches Verhalten aufrecht erhalten – diese drei sind die heilsamen Handlungen des Körpers. Wir könnten diesen noch Enthaltung von berauschenden Drogen und Alkohol hinzufügen.
- · Die Wahrheit sagen; zerstrittene Gesellschaften oder Individuen harmonisieren; eine sanfte Stimme und freundliche Worte benutzen; und sinnvolle Gespräche führen – dies sind die vier heilsamen Handlungen der Rede.
- · Entwickeln von Zufriedenheit und Wertschätzung; Reflexion über liebende Güte, Geduld und Toleranz; und die rechte Sichtweise bzgl. des unausweichlichen Prinzips von Ursache und Wirkung, sowie die Anerkennung der Sichtweise des Entstehens in wechselseitiger Abhängigkeit – das sind die drei heilsamen Zustände des Geistes.
Wer immer diese zehn heilsamen Handlungen übt und sich im Leben entsprechend verhält, wird dadurch in seiner Umgebung Frieden und Harmonie stiften. Er wird ein Leben in Gewaltlosigkeit, Frieden und Freude erfahren. Jede Person, gleich welcher Kultur, Religion oder Ideologie sie angehört, kann sie annehmen und als Grundlage für echten Frieden praktizieren. Sie sind die Voraussetzung für spirituelles Wachstum und unentbehrlich auf dem Pfad, der uns von Samsara befreit. Ohne sie bauen wir unser Haus auf einer Sandbank oder auf Eis. Mit ihnen als Fundament können wir unseren unsteten Geist zähmen und dahin führen, liebende Güte, Mitgefühl und Bodhicitta zu lernen und zu praktizieren. Das ist die großartige Methode; deshalb ist es wichtig, sich daran immer wieder zu erinnern. Wenn Du den ganzen Kommentar zu Milarepas Gesang gelesen hast, wirst Du weniger in Gefahr sein, dieses kostbare menschliche Leben zu vergeuden.
Kommentar
Die Essenz seines eigenen Geistes erkennend, verwirklicht der Yogi die wahre Natur und ist immer glücklich.
Täuschungen nachlaufend, verstärkt der Praktizierende sein Elend und ist immer leidend.
Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass, obwohl es im Gedicht seines eigenen Geistes heißt, Geist kein Geschlecht hat. Geschlecht gibt es nur auf der äußeren Ebene der körperlichen Phänomene. Weder die Buddha-Natur noch Bodhicitta usw. kennen das Konzept von männlich oder weiblich; ebenso wenig die Leerheit. Die Gelegenheit, die wir alle für Studium und Praxis haben, ist jenseits solcher Dualität. Deshalb heißt es auch, dass der Geist des Buddha nicht verschieden vom Geist der fühlenden Wesen ist. Das Bodhicitta des Buddha und das Bodhicitta eines fühlenden Wesens weisen nicht den kleinsten Unterschied auf. Jedoch müssen wir – ganz individuell – Verantwortung übernehmen, den Pfad auch zu gehen. Milarepa benutzte ein männliches Adjektiv, weil er zu Lengom Repa sprach, aber seine Unterweisung ist an alle fühlenden Wesen gerichtet – unterschiedslos.
Das positive Beispiel ist hier ein Praktizierender, der die Essenz seines Geistes erkennt. Unser Geist gehört nur uns; so haben wir allein die Verantwortung, uns zu erkennen. Es ist wichtig, dass wir uns selbst ermutigen, die Erkenntnis der wahren Natur unseres Geistes zur Priorität in unserem Leben werden zu lassen. Einmal erkannt, liegt das Universum in unseren Händen. Wir sind zutiefst zufrieden; und wenn wir zutiefst zufrieden sind, sind wir glücklich. Andernfalls suchen wir immer weiter, suchen in der Außenwelt nach Glück.
Obwohl wir sicher schon viele Unterweisungen erhalten haben, ist das Verständnis oft jenseits unseres Begriffsvermögens. Wenn wir die Lehren nicht in Praxis umsetzen, sind wir weiterhin verloren, ganz gleich, wie viele Informationen wir auch gesammelt haben. Dies ist ein entscheidender Punkt. Milarepa lernte unter Marpa, der alle Lehren auf ihn übertrug. Milarepa konnte allein in den Bergen verweilen, voll Freude und Zufriedenheit, weil er diese Lehren in Praxis und tiefe Erfahrung umsetzte. Er brauchte nicht mehr irgendwohin zu gehen, irgendetwas zu sehen oder noch irgendetwas zu erledigen. Deshalb ist sein Rat an uns, zu meditieren, zu praktizieren, uns mit den Unterweisungen und Praktiken vertraut zu machen, sie zu meistern, Vertrauen zu fassen und Erleuchtung zu erlangen. Dann wird Glück unausweichlich.
Das gegenteilige Beispiel ist hier in diesem Vers ein Praktizierender, der Täuschungen hinterherjagt, einer nach der anderen. Wir mögen zwar den Dharma studieren, aber in Wirklichkeit sind wir mehr mit den acht weltlichen Belangen beschäftigt. Viele Praktizierende gehen im Namen des Dharma hierhin und dorthin, aber finden niemals ihren Geist, weil sie glauben, dass sie Glück außerhalb ihrer selbst erlangen können. Das wird nie geschehen. Glück gibt es nur in uns selbst. Täuschung nachzugehen, bringt nur noch mehr Unglück. Je mehr wir den acht weltlichen Belangen und anderen Ablenkungen folgen, umso mehr wird unser Leiden zunehmen. Als Dharma-Praktizierende sollten wir dies wirklich verstehen.