Das Fastenritual des 1000-armigen Avalokiteshvara

1000-armiger-avalokiteshvaraEine besonders kostbare und intensive Meditationspraxis ist das Fastenritual (tib. Nyung Ne) des 1.000-armigen Avalokiteshvara1 (tib. Chenresig).

Seine sechs Hände symbolisieren die Hilfe in den sechs Daseinsbereichen. Alle 1.000 Hände sind mit Augen versehen, d.h. sie sehen die Leiden aller Wesen. Avalokiteshvara hilft ihnen durch seine Weisheit. Die zehn Köpfe symbolisieren die Stadien des Bodhisattva-Pfades (Bodhisattva-Bhumis) und der elfte die Buddhaschaft. Je drei Köpfe drücken Mitgefühl über das Leiden, Zorn über das Böse und Freude über das Gute aus. Buddha Amitabha (skr., tib Öpame) an der Krone des Kopfes symbolisiert die erleuchtende Weisheit als Ursprung und Ziel seines Wirkens.

Das Fastenritual des Avalokiteshvara

Das Fastenritual des Avalokiteshvara ist leicht zu verstehen. Es ist sehr kraftvoll und eine grundlegende Basis für die fortgeschrittenen Übungen der höheren Tantra-Klassen. Anhand eines ausführlichen Textes2, der die Beschreibungen zur Visualisierung enthält, werden Gebete, Opfergaben und Ehrerbietungen ausgeführt. Traditionell wird diese Praxis häufig in der Zeit nach dem tibetischen Neujahr oder in Verbindung mit großen Feiertagen durchgeführt.

Die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes (skr. Bodhicitta) ist die Wurzel und Grundlage, um die vollkommene Buddhaschaft zu erlangen und das liebevolle Herz des Mitgefühls, das durch den großen Avalokiteshvara verkörpert wird, ist die Wurzel dieser reinen Geisteshaltung. Das Mantra von Avalokiteshvara verkörpert die fünf Weisheiten der fünf Buddha-Familien3. Es führt zur Wiedergeburt in einem reinen Buddha-Bereich und man erlangt weiteren, zahlreichen Nutzen.

Die Praxis des Avalokiteshvara erfüllt die zwei Arten von Wünschen: (1) die vorläufigen Wünsche richten sich auf ein langes Leben, gute Bedingungen und eine gute Entwicklung (Wohlstand); (2) die absoluten Wünsche umfassen die Entwicklung der vollendeten Qualitäten wie Liebe, Mitgefühl und den Erleuchtungsgeist (skr. Bodhicitta).

Die Durchführung des Fastenrituals stärkt unser ethisches Verhalten, lässt unser Bedürfnis nach den buddhistischen Lehren anwachsen und vertieft unsere Kontemplationen sowie die Kraft der anderen Übungen. So kann sie zu tiefen Erfahrungen und schließlich zu hohen, geistigen Verwirklichungen führen. Sie bewirkt Frieden in der Welt, eine reine Umwelt und reinigt die vier Elemente, die die Basis des Lebens sind.

Ebenso wirkt sie heilsam bei körperlichen Krankheiten und geistigen Pro­blemen. Es gibt zahlreiche Geschichten in den tibetischen Überlieferungen, die von der Wirksamkeit dieser Praxis berichten. So wurde Bhikshuni Lakshmi (skr., tib. Gelongma Palmo), auf die diese Praxis zurückgeführt wird, von Lepra geheilt. Die von ihr erstellte Praxis in Verbindung mit einem Fastenritual geht auf Buddha Shakyamuni zurück. Sie wurde von den Maha­siddhas bis zu ihr und danach über die Meister der Übertragungslinien bis heute weitergegeben. Sie genießt große Beliebtheit und hohes Ansehen in den tibetischen Traditionen und erfreut sich inzwischen auch in den Zentren in westlichen Ländern großer Beliebtheit.

Das Fastenritual des Avalokiteshvara ist eine sehr verbreitete Übung, die umfassend und tiefgründig ist. Es gehört zum Kriya-Tantra, der ersten der vier Tantra-Klassen. Im Kriya-Tantra wendet man Rituale und äußere Formen der Praxis zur Ansammlung von Verdiensten an. Allgemein spricht man von zwei Arten der Ansammlung: der Ansammlung von Verdienst auf der relativen Ebene und der Ansammlung von vollkommener Weisheit (Einsicht) auf der absoluten Ebene. Die Ansammlung von Verdienst dient dazu, die nötigen Ursachen und günstigen Umstände für die weitere geistige Entwicklung zu schaffen. Diese sind das Fundament für die fortgeschrittenen Übungen.

Durchführung

Die Durchführung der Fastenpraxis findet auf der Basis der Übertragungen durch eine Einweihung (tib. Wang oder Jenang) zum 1.000-armigen Avalokiteshvara, die Texterlaubnis (tib. Lung) und die Erklärungen zur Praxis (tib. Tri) statt. Jenang ist eine kurze Einweihung zur Übertragung des Segens. Für eine lange Einweihung (tib. Wang) benötigt man ein Sand-Mandala und die vollständige Übertragung würde insgesamt zwei Tage brauchen. Daher wird diese nur in seltenen Fällen und zu besonderen Anlässen ausgeführt. Die kurze Einweihung enthält jedoch ebenso alle notwendigen Schritte, die für die Durchführung der Meditation notwendig sind.

Die Praxis ist sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittene Dharma-Praktizierende geeignet. Wenn die Teilnehmer nicht mit den Grundlagen tibetischer Meditation und der Rezitation von Texten vertraut sind, können sie dennoch teilnehmen, indem sie den Rezitationen zuhören und das Mantra von Avalokiteshvara rezitieren.

Das Ritual des Avalokiteshvara ist sehr tiefgründig und in den Texten wird erklärt, dass es von großem Nutzen ist, wenn man nur das Sechs-Silben-Mantra von Avalokiteshvara rezitieren kann. Selbst jemand, der nur die Reissuppe für ein Fastenritual kocht, erwirbt bereits großes Verdienst. Wenn man nicht selbst teilnehmen kann, hat es ebenfalls einen großen Nutzen, ein entsprechendes Retreat und die Dharma-Praktizierende, die daran teilnehmen, zu fördern und zu unterstützen, indem man Spenden zum Unterhalt des Zentrums und zur Durchführung der Praxis bereitstellt.

Das Ritual besteht jeweils aus zwei aufeinander folgenden Tagen, die man mehrmals wiederholen kann. Die Übung beginnt am frühen Morgen mit dem Nehmen von Gelübden, die man an diesem Tag einhalten soll. Diese beinhalten die Wurzelgelübde4 und ergänzende Regeln5, die die Wirksamkeit der Praxis unterstützen sollen. Es ist notwendig, dass man die Gelübde am ersten Tag von einem ordinierten Mönch oder einer Nonne erhält. An den folgenden Tagen kann man dann die Gelübde auch vor einer Statue
oder einem Thangka selbst nehmen.

Am ersten Tag (Nye Ne) isst man mittags eine vegetarische Mahlzeit und kann bis zum Abend etwas trinken. Am nächsten Tag (Nyung Ne) gibt es nur am frühen Morgen eine Reissuppe, um die im Körper lebenden Wesen zu nähren. Danach gibt es keine Speisen und Getränke mehr. Dann folgt wieder ein Tag mit der Praxis als Nye Ne usw.

Wenn mehrere Zyklen nacheinander ausgeführt werden, sollte man darauf achten, dass die verschiedenen feinstofflichen Energien nicht aus Unkenntnis aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Wer z.B. an einer Störung der körperlichen oder geistigen Kräfte, wie sie z.B. in der tibetischen Medizin beschriebenen sind6, leidet, sollte zunächst eine leichtere Form des Rituals durchführen. Dies gilt insbesondere für Störungen der Wind-Energie (tib. Lung), die mit psychischen oder emotionalen Belastungen, Leistungsdruck und Ruhelosigkeit einhergehen.

Man kann z.B. an beiden Tagen entsprechend des Nye Ne praktizieren und bis zum Mittag essen und sich so schrittweise mit den Übungen vertraut machen. Ein Nye Ne entspricht dem ersten Tag eines Zyklus, sodass man auch am zweiten Tag bis zu Mittag etwas essen und über den Tag Getränke zu sich nehmen kann. Dies betrifft Personen, die gesundheitliche Schwächen haben, die älter sind oder aus anderen Gründen nicht so intensiv fasten können oder die noch kein Nyung Ne ausgeführt haben und unsicher in Bezug auf das Fasten sind. So können sie trotzdem an den gemeinsamen Übungen mit den Darbringungen usw. teilnehmen und den großen Nutzen dieser Praxis erfahren.

Wenn man auch am Abend Essen benötigt, kann man an den Rezitationen und dem Darbringen der Gaben teilnehmen, ohne am Morgen die Fastengelübde zu nehmen. Dennoch sollte man sich an die anderen Regeln halten und die anderen Teilnehmer nicht stören. Wenn man mit den Rezitationen und Darbringungen nicht vertraut ist, kann man den anderen zuhören, das Mantra rezitieren und evtl. Verbeugungen durchführen.

Es ist gut, mindestens einen vollständigen Zyklus von zwei Tagen auszuführen. Durch die Wiederholung fallen die Übungen von Tag zu Tag leichter. Wenn man so die Praxis gemeinsam ausführt, kann man nach und nach die verschiedenen Stufen kennenlernen und die Meditation wird immer einfacher und wirksamer.

So kann man mit Achtsamkeit und ohne Ehrgeiz seinen eigenen Fähigkeiten entsprechend auf unterschiedlichen Ebenen an der Praxis teilnehmen.

Abschluss

Wenn man nur an einem Zyklus (zwei Tage) teilnimmt, führt man eine abschließende Übung am Vormittag des dritten Tages aus, ohne dann erneut die Gelübde zu nehmen und schließt so die Meditation ab. Für diejenigen, die weiter praktizieren möchten, schließt sich hier der zweite Zyklus an und wird entsprechend mit einer abschließenden Rezitation nach dem letzten Tag beendet. Entsprechend kann man mehrere Zyklen nacheinander durchführen.

Allgemein ist es hilfreich, wenn man sich nach einem Retreat noch einen ganzen Tag zum Abschluss freihalten kann und sich nicht sofort wieder in Ablenkungen und Verpflichtungen des Alltags stürzt. So kann man den positiven Eindrücken, die im Geist entstanden sind, noch etwas Raum geben, um sie zu festigen und sie auf diese Weise mit in den Alltag hineinnehmen. Man kann sich ein schönes Essen zubereiten, in die Natur gehen oder einfach ausruhen. Wenn man etwas tun möchte, ist es gut  seinen Meditationsplatz oder den Altar reinigen, seine Dharma-Texte ordnen oder Praxisgegenstände reinigen oder reparieren. Am Abend kann man für sich selbst noch einmal eine kurze Meditation des Avalokiteshvara durchzuführen. Danach kann man versuchen, seine Achtsamkeit im Alltag aufrecht zu erhalten und so seine Aufgaben mit Freude und Kraft wiederaufnehmen.

Möge diese Praxis zum Wohle und Nutzen der Wesen durchgeführt werden, bis alle Wesen aus allen Bereichen des Samsara befreit sind.
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[1] Avalokiteshvara (skr., tib. Chenresig): der Bodhisattva des großen Mitgefühls.

[2] „Das Schiff der Befreiung“, das Fastenritual (tib. Nyung Ne) des großen Mitfühlenden mit elf Gesichtern (Avalokiteshvara, tib. Chenresig). Der Text wurde mit einer deutschen Übersetzung im Drikung Kagyü Verlag ausgearbeitet und kann im Mandala Dharma-Shop erworben werden.

[3] Fünf Buddha-Weisheiten: Die verschiedenen Aspekte der Erleuchtung werden in den fünf Dhyani-Buddhas ausgedrückt. Diese sind: (1) Dharmadhatu-Weisheit (gegen Unwissenheit), (2) spiegelgleiche Weisheit (gegen Hass), (3) Weisheit der Gleichheit (gegen Stolz), (4) Weisheit der Klarschau (gegen Begierde) und (5) alles-vollendende Weisheit (gegen Neid).

[4] allgemeine Grundsätze, die ein Buddhist einhalten soll: nicht töten, nicht stehlen, die lügen, kein sexuelles Fehlverhalten und keine Mittel, die den Geist negativ beeinflussen (Alkohol, Drogen). Während des Fastenrituals wird die dritte Regel ausgedehnt und beinhaltet, dass man keinen sexuellen Verkehr ausübt.

[5] Zu den Regeln, die dazu beitragen, dass man in der Praxis Fortschritte machen kann, gehört, dass man keinen Schmuck tragen soll, kein Parfüm benutzt, nicht auf hohen, prunkvollen Betten oder Stühlen sitzt oder liegt und keine Nahrung zur unrechten Zeit zu sich nimmt. Das bedeutet allgemein, dass man nicht nach dem Mittag essen soll (Nye Ne). Außerdem soll das Edle Schweigen eingehalten werden.

[6] „Wind“ (tib. Lung), „Galle“ (tib. Tripa), „Schleim“ (tib. Beken) sowie Kombinationen dieser drei