Rezension
Licht, das die Dunkelheit durchbricht
Dr. Thomas Lautwein
(geb. 1963 in Freiburg im Breisgau, Studium der Philosophie, Germanistik, Romanistik
seit 1991 Buddhist, Mitglied im Rat der Deutschen Buddhistischen Union
Übersetzer, Lateinlehrer und Autor, lebt und arbeitet in Nürnberg; schreibt zur Zeit an einer umfangreichen Studie über die Göttin Hekate.)
Mahamudra, das große Siegel, ist eine Meditationspraxis, die auf den Mahasiddha Tilopa zurückgeht und seit dem 11./12. Jahrhundert vor allem in der Kagyü-Tradition überliefert wird. Ziel dieser Meditationspraxis ist es, die wahre Natur des Geistes unmittelbar als leer, klar, rein und licht zu erkennen und dadurch befreit zu werden. Die Mahamudra-Praxis war anfangs umstritten, von Seiten der Sakya- und Gelug-Tradition wurde sie verdächtigt, nur zur Verwirklichung geistiger Ruhe (shamata) zu führen (so etwa bei Khedrubje), und von Theravada-Seite wird sie auch heute noch gelegentlich des Äternalismus (nityânta) verdächtigt. Auf der anderen Seite wird sie als das tibetische Zen gepriesen und darauf hingewiesen, dass es sich letztlich um eine vertiefte Form der Achtsamkeit als Geistbetrachtung (cittânupassanâ).
Die vorliegende Veröffentlichung stellt erstmals in deutscher Sprache einen der ältesten tibetischen Mahamudra-Texte vor. Er stammt von Jigten Sumgön (1143-1217), der 1179 das Kloster Drikung Thil gründete.
Mahamudra-Texte sind Praxis-Unterweisungen. Sie argumentieren nicht logisch, sondern sind als Gedächtnisstütze und Inspiration für Schüler gedacht, die von einem qualifizierten Lehrer mündliche Unterweisungen erhalten haben. Den Weg zum Erwachen beschreiben sie mit den Begriffen Basis, Weg und Frucht: Die Buddhanatur, die alle Wesen besitzen, ist die Basis, der Dharmakaya die Frucht, der Weg ist das allmähliche Zur-Ruhe-Bringen des Geistes, das zum ‘Einsgeschmack’ (ro-gcig) und zur ‘Nicht-Meditation’ (sgom-med) führt. Über die non-duale Erfahrung, die dabei entsteht, heißt es im Text sehr schön: ‘In diesem Zustand gibt es weder einen sprachlichen noch einen gedanklichen Ausdruck für die Natur des Geistes. Dennoch ist die leuchtende, unaufhörliche, kristallklare, authentische, nackte und lebendige Gewahrsamkeit der Natur des Geistes etwas Zu-Sehendes, das nicht gesehen wird, etwas Zu-Erfahrendes, das nicht erfahren wird, und etwas, dessen man sich sicher und gewiss wird – dennoch ist es sprachlich nicht ausdrückbar. Das ist ‚Einsicht’.’ (S. 41).
Der Text beschreibt die Praxis in Verbindung mit der Übung des tantrischen Gottheiten-Yoga und führt zahlreiche Zitate aus Sutras und Tantras an.
Die Übersetzung entstand in Zusammenarbeit mit Garchen Rinpoche und macht einen sehr guten Eindruck; als Anhang wurden vier kurze Gebete von Jigten Sumgön übersetzt, die zur Kategorie der „Dohas“ gehören, d.h. der Gesänge eines verwirklichten Meisters.
Werner Liegl
Aus der Drikung Kagyü Tradition des tibetischen Buddhismus stammt der Text “Licht, das die Dunkelheit durchbricht” von Jigten Sumgön Ratnashri (1143-1217), den der Otter Verlag nun in einer direkten Übersetzung aus dem Tibetischen, von Dr. Jan-Ulrich Sobisch autentisch besorgt, vorgelegt hat.
Der Text versteht sich als Wegbeschreibung zur endgültigen Realisation, als Verschmelzung der gesamten Skala essentieller Kern-Unterweisungen von den Sutra- und Tantra-Lehren des Buddha. In guter tibetischer Tradition besteht er aus den Teilen “Widmung”, “Vorbereitung”, “Die eigentliche Praxis” und “Der Abschluss”.
Der beschriebene Weg verwendet die Visualisation des eigenen Körpers als tantrische Gottheit (Guru-Yoga) als Mittel zur Loslösung von den falschen Konzepten hinsichtlich des gewöhnlichen Körpers. Im Hauptteil wendet sich der Yogi dann ganz nach innen direkt zur Wahren Natur seines Geistes. Zur Unterstützung der Praxis enthält das Buch auch noch vier zusätzliche Lieder aus der gleichen Tradition um Jigten Sumgön.
Für intensiv Praktizierende des tibetisch-buddhistischen Wegs ist sicher von unschätzbarem Nutzen, dass der Text auf tibetisch und deutsch auf jeweils gegenüberliegenden Seiten präsentiert wird. So kann er seiner Funktion als Gedächtnisstütze optimal dienen.
Er wird allerdings nur unter praktischer Anleitung eines erfahrenen Meisters seine Wirkung auf den Geist des Praktizierenden voll entfalten können.