Nyung Ne

Das Fastenritual des Avalokiteshvara (tib. Chenresig)

Wir freuen uns sehr, dass Drubpön Kunsang in diesem Jahr wieder mit uns zusammen die Praxis des Nyung Ne in unserem Zentrum durchführen wird. Da das Fastenritual vielen Praktizierenden noch nicht bekannt ist, haben wir einige Informationen dazu bereitgestellt, um einen Eindruck von der Praxis zu bekommen. Im Internet sind dazu zwei ausführliche Artikel vorhanden:

Für alle, die zum ersten Mal teilnehmen, findet am Samstag, 9. März vormittags ein Einführungsseminar mit Tändsin T. Karuna statt, das sehr hilfreich ist, um sich beim Nyung Ne besser auf die Praxis konzentrieren zu können. U.a. wird sie Erklärungen geben, die sich auf den umfangreichen Text beziehen, der während des Retreats rezitiert wird, und auf die Gelübde, die man jeweils am Morgen für einen Tag aufnimmt.

Nachfolgend haben wir einen Ausschnitt der Unterweisungen von Drubpön Champa Rigzin abgedruckt, der den außerordentlichen Nutzen der Nyung Ne Praxis, wie er in den traditionellen Kommentaren zu finden ist, beschreibt. Im Mandala Dharma-Shop sind drei Texte mit Erklärungen zum Nyung Ne Text „Das Schiff der Befreiung“ vorhanden – ein kürzerer und zwei ausführliche.

Der Nutzen der Meditation des Avalokiteshvara[1]
Besonders günstige Tage[2] für die Durchführung des Nyung Ne sind der 8. Tag[3] (des tibetischen Monats), der 15. Tag (Vollmond)[4] und der 30.Tag (Neumond)[5]. Diejenigen, die an diesen Tagen das Fastenritual (tib. Nyung Ne) des Avalokiteshvara praktizieren, werden von allem negativen Karma gereinigt, auch, wenn sie die fünf unsühnbaren Handlungen ausgeübt haben, und sie werden den Erleuchtungszustand erlangen. Sogar, wenn es nicht möglich ist, die Praxis des Nyung Ne vollständig durchzuführen und sie stattdessen nur das Avalokiteshvara-Mantra rezitieren oder den Namen des großen Mitfühlenden anrufen, werden sie von den negativen Handlungen gereinigt und schließlich den Erleuchtungszustand erlangen.

Solange diejenigen, die die zehn unheilsamen Handlungen und die vier schwerwiegenden Handlungen[6] ausgeführt haben, nicht den Erleuchtungszustand erlangt haben, wird Avalokiteshvara nicht in den Zustand des Friedens (skr. Nirvana) eintreten. Weiterhin verspricht Avalokiteshvara, dass jeder, der die Rituale der Schutz-Mantras von Avalokiteshvara durchführt, von ihm geschützt wird. Er wird ihnen Zuflucht geben und sie schützen. Der Erleuchtungsgeist von Avalokiteshvara ist groß und umfassend. Wenn man z.B. Statuen von Avalokiteshvara herstellt und auf den Körper von Avalokiteshvara meditiert, ist das genauso, als ob man Statuen der Buddhas der zehn Richtungen herstellen und auf diese meditieren würde.

Das Sechs-Silben-Mantra (Om Mani Padme Hung) von Avalokiteshvara ist das Schutz-Mantra, in dem die Kraft der Mantras aller Buddhas vereint ist. Wenn man den Namen von Avalokiteshvara einmal ausspricht, hat dies das gleiche Verdienst wie das Aussprechen der Namen von 1.000 Buddhas, denn Avalokiteshvara ist die Essenz der Buddhas der zehn Richtungen. Im elfköpfigen Avalokiteshvara ist der hohe Geist (Bodhicitta, das Herz) aller Buddhas und Bodhisattvas zusammengefasst.

Auch können durch die Praxis des Avalokiteshvara mit 1.000 Armen und 1.000 Augen große Anhäufungen von Verfehlungen durch unheilsame Handlungen und die schwerwiegenden Verfehlungen (s.o.) usw. gereinigt werden, selbst wenn diese so groß sind wie der Berg Meru. Ebenso kann durch das Nennen des Namens von Avalokiteshvara bis hin zur Ausführung der Praxis so viel Verdienst angesammelt werden, dass es dem Berg Meru gleicht. Die Ansammlung von Verdienst und Weisheit ist so groß, dass dies nicht zu ermessen ist.

Avalokiteshvara hilft auch Tieren wie z.B. Vögeln usw. Wenn man den Namen von Avalokiteshvara oder die Laute des Mantra zum Zeitpunkt ihres Todes spricht und sie diese Laute hören, führt sie das zu einer Wiedergeburt in den höheren Bereichen oder im Menschenbereich und sie bekommen Kontakt zur Praxis des Avalokiteshvara. Wenn diejenigen, die sich dann in den oberen Bereichen – dem Bereich der Götter, der Halbgötter oder der Menschen – befinden, wieder mit dem Namen oder der Praxis von Avalokiteshvara oder mit dem langen oder kurzen Mantra zusammentreffen, wird dies schließlich dazu führen, dass sie in Sukhavati (tib. Dewachen), dem reinen Buddha-Land von Buddha Amitabha (tib. Öpame), wiedergeboren werden.

Da der elfköpfige Avalokiteshvara die Zusammenfassung aller Buddhas ist, werden mit der Praxis des elfköpfigen Avalokiteshvara auch gleichzeitig die anderen Emanationen, die erklärt wurden, praktiziert. Die Praxis des elfköpfigen Avalokiteshvara hat einen großen Segen, sodass sich der Erfolg der Praxis schnell und leicht einfindet.

Durch das einmalige Rezitieren des langen Mantra[7] von Avalokiteshvara (skr. Dharani, tib. Sung)[8], das mit Namo Ratna Trayaya beginnt, werden die negativen Folgen des Brechens von Versprechen (Gelübden) gereinigt. Durch das einmalige Rezitieren dieses Mantra wird außerdem die gesamte Anhäufung der vielen, negativen Handlungen dieses Lebens beseitigt und die Hindernisse in Bezug auf die Entwicklung des Erleuchtungsgedankens (skr. Bodhicitta) im eigenen Bewusstseinsstrom werden beseitigt.

Durch die einmalige Ausführung des Nyung Ne wird das Karma der negativen Handlungen von 40.000 Kalpas[9] gereinigt und die Qualitäten der Praxis der sechs Paramitas (skr. Vollkommenheiten) werden zur Vollendung kommen. Der Nutzen des Nyung Ne ist insbesondere, dass man sich erfolgreich von Samsara löst und den Erleuchtungszustand erlangt oder dass man zu einem Nicht-mehr-Wiederkehrer[10] wird. Das heißt, dass man sich von Samsara gelöst hat und in Richtung der Erleuchtung begibt.

Durch die Praxis des Nyung Ne und die Niederwerfungen werden die Verschleierungen und Verunreinigungen des Körpers beseitigt. Durch das Einhalten des Schweigens, d.h. durch das Aufgeben der weltlichen Sprache, werden die Verunreinigungen der Sprache beseitigt. Die Rezitation des langen Mantra von Avalokiteshvara führt zur Reinigung der Verfehlungen im Geist.

Der Nutzen, der aus der Meditation auf den hohen Körper des elfköpfigen Avalokiteshvara entsteht, ist vielfach: durch die Meditation auf die drei weißen Gesichter von Avalokiteshvara verwirklicht man die friedvolle Buddha-Aktivität; durch die Meditation auf die drei grünen Gesichter verwirklicht man die vermehrende Buddha-Aktivität; durch die Meditation auf die drei roten Gesichter verwirklicht man die kontrollierende, kraftvolle Buddha-Aktivität; durch die Meditation auf den zornvollen blauschwarzen Kopf verwirklicht man die zornvolle Buddha-Aktivität; durch die Meditation auf den roten Kopf von Buddha Amitabha, der sich ganz oben befindet, verwirklicht man die Buddha-Aktivität der Bodhisattvas der zehnten Stufe.

Zusammengefasst verwirklicht man durch die Meditation auf den elfköpfigen Avalokiteshvara die fünf Buddha-Aktivitäten. […]

Auch der Nutzen für diejenigen, die denen helfen, die Nyung Ne praktizieren, ist vielfältig: Das Verdienst derjenigen, die morgens die Suppe bringen, ist wie das Verdienst des Erreichens der achten Bodhisattva-Stufe, d.h. diese Helfer werden nicht mehr in den niedrigen Bereichen wiedergeboren und sie werden ständig den Erleuchtungsgeist kultivieren. Solche Helfer werden in der Zukunft großen Reichtum erlangen, der Reichtum wird nicht versiegen, sie werden Komfort erlangen, der nicht nachlässt und schließlich werden sie in ihrem nächsten Leben die sechs Paramitas zur Vollendung bringen.

Außerdem entsteht Verdienst aus der Rezitation des Mantra von Avalokiteshvara. In diesem Text gibt es drei Mantras von Avalokiteshvara:

  • Die Dharani (tib. Sung), das lange Mantra:
    NAMO RATNA TRAYA …
  • Das Herz-Mantra von Avalokiteshvara:
    OM DARA DARA DIRI DIRI …
  • Das Sechs-Silben-Mantra:
    OM MANI PADME HUNG

Die Dharani (die beiden Teile des langen Mantra) soll man (insgesamt) 1.000 Mal vollständig rezitieren, das Herz-Mantra 600.000 Mal und das Sechs-Silben-Mantra so oft wie möglich. Wer diese Anzahl während der Zeit des Nyung Ne rezitiert, d.h. jemand, der diese Praxis vollständig ausgeführt hat, erhält sehr viel Kraft: wenn man durch Wasser geht und wenn das Wasser, das man berührt hat, getrunken wird, werden die Wesen, die dieses Wasser trinken, nicht mehr in den niedrigen Bereichen wiedergeboren; wenn der Schatten dieser Person von anderen berührt wird (d.h. auf andere Wesen fällt), werden sie nicht mehr in niedrigeren Bereichen wiedergeboren; jemand anderes, der diese Person sieht, wird nicht mehr in den niedrigen Bereichen wiedergeboren.

Dies sind nur einige Beispiele der Wirkung der Nyung Ne Praxis. Diese Kraft entsteht aufgrund der Samayas (tib. Damtsig)[11]. Das sind die Samayas von Avalokiteshvara und die Samayas, die bei der Praxis des Nyung Ne genommen werden. Wenn man die Meditation auf den 1.000-armigen Avalokiteshvara ausführt und die Mantras rezitiert, ohne die Samayas zu brechen, hat dies also einen großen Nutzen für die Wesen.

Dies alles wird in den Lehrreden der Tantra-Abteilung im Tantra des Avalokiteshvara mit 1.000 Armen und 1.000 Augen erklärt. […]

Tändsin T. Karuna

[1] Auszug aus Unterweisungen von Drubpön Champa Rigzin, 1993 – Erklärungen zu Grundlagen der Praxis, DKV 022-152 Erklärungen Nyung Ne lang
[2] Traditionell wird diese Praxis häufig in der Zeit nach dem tibetischen Neujahr (Losar) oder in Verbindung mit großen Feiertagen durchgeführt.
[3] Medizin-Buddha-Tag: jeweils am 8. des Monats. An diesen Tagen werden die Wirkungen von positiven oder negativen Handlungen um das Hundertfache vervielfacht.
[4] Vollmond: 14./15. Tag des Monats, Buddha-Amitabha-Tag.
[5] Neumond: 29./30. Tag des Monats, Buddha-Shakyamuni-Tag.
[6] Zehn unheilsame Handlungen: körperlich: (1) Töten; (2) Stehlen; (3) sexuelles Fehlverhalten; verbal: (4) Lügen; (5) verletzende (entzweiende) Rede; (6) grobe Rede; (7) sinnlose Rede; geistig: (8) Begierde, Gier, Anhaftung; (9) negative Absichten, Hass (Zerstörungswunsch); (10) falsche Anschauung, falsche Sichtweisen, Unwissenheit.
Fünf allgemein unheilsame Handlungen: (1) töten, (2) stehlen, (3) sexuelles Fehlverhalten, (4) lügen, (5) Genuss von Drogen oder Alkohol.
Fünf schwer sühnbare Handlungen: (1) Töten eines Novizen oder Mönches, (2) Verführung eines Mönchs oder einer Nonne, (3) Zerstörung oder Verstümmelung von Bildwerken des Buddha, (4) Zerstören von Schriften, (5) Zerstören von Schreinen.
Fünf unsühnbare Handlungen: (1) Muttermord, (2) Vatermord, (3) Tö­ten eines Arhat oder Guru, (4) Spaltung des Sangha, (5) Verwunden eines Tathagata.
[7] Mantra (skr., tib. Nga): ‚Schutz des Geistes‘, ‚Werkzeug‘, Worte (tra) zum Denken (man). Besondere Silben, die den verschiedenen Emanationen der Buddhas zugeordnet sind. Sie wirken auf Grund der Kraft des Klanges. Diese ‚heilige Sprache‘ dient im Zusammenhang mit der Vajrayana-Praxis dazu, die gewöhnliche Sprache zu reinigen und sie mit der Weisheitssprache einer Meditationsgottheit (skr. Deva, tib. Yidam) gleichzusetzen, um Erleuchtung zu erlangen. Mantras enthalten oft die (geheimen) Namen von Buddhas und Bodhisattvas und können auf verschiedenen Ebenen rezitiert werden.
[8] Dharani (skr., tib. Sung): ein Text, der die Essenz einer heiligen Lehre enthält. Wörtlich: ‚das, wodurch etwas aufrechterhalten wird‘, kurz: ‚das, was hält‘. Dharanis dienen der Festigung des Geistes (skr. Dharana) und einer durch Meditation gewonnenen Erkenntnis. Sie unterscheiden sich in der Funktion nicht von einem Mantra, sind aber oftmals wesentlich länger. Die Rezitationen erfolgen in der Originalsprache, meist in Sanskrit. Zwar haben viele Dharanis auch eine wörtliche Bedeutung, aber auf diese kommt es nicht an. Sie sind in erster Linie ein Hilfsmittel der Meditation: „Durch Vertiefung (skr. Samadhi, tib. Shine) eignet man sich eine Wahrheit an und durch ein Dharani bewahrt man sie.“
[9] Kalpa (skr.): Weltzeitalter; die Zeitspanne, die eine Taube benötigt, um einen Weizenberg abzutragen, der so groß ist wie der Berg Meru (Everest), wobei sie alle tausend Jahre ein Körnchen wegnimmt.
[10] Arya (skr.): die Edlen, die Heiligen; (Pali: ariya-puggala): edle Personen, auch: die Heilen oder Geheilten. Die vier Wege oder vier Stufen (tib. Lam) der Vollkommenheit umfassen: (1.) den Stromeintritt, (2.) den Eimalwiederkehrer, (3.) den Nichtwiederkehrer und (4.) den Feindzerstörer (skr. Arhat).
[11] Samaya (skr., tib. Damtsig): ‚Band‘, ‚Verbindung‘. Die Versprechen oder Vorsätze, die man im Mahayana ‚Gelübde‘ nennt, werden im Vajrayana ‚Samaya‘, ‚heilige Verpflichtungen‘ oder ‚Band‘ genannt. Diese Versprechen oder ‚Bänder‘ zwischen Guru und Schüler werden durch das Nehmen von Einweihungen usw. erhalten. Dazu zählen: (1) das Band zum Guru, welches sich durch das Erhalten von Unterweisungen und Ermächtigungen bildet, und (2) das Band zum Deva (skr., tib. Yidam), der für den Praktizierenden durch die Einweihung im Mittelpunkt steht. Die ‚Gelübde‘ des Vajrayana gewinnen insbesondere in den höheren Tantra-Klassen immer größere Bedeutung. Neben den allgemeinen 14 Wurzel-Samayas gibt es verschiedene Gruppen von Samayas, die mit den Buddha-Familien in Verbindung stehen.