Die Meditation des Avalokiteshvara und die Methoden des Vajrayana
An Hand der Meditation des großen Bodhisattva Avalokiteshvara (skr., tib. Chenresig), der Manifestation von Liebe und Mitgefühl, machen wir uns mit verschiedenen Aspekten der Methoden des Vajrayana vertraut, wie sie in den tibetischen Traditionen angewendet werden. Ihre Anwendung reicht von einem augenblicklichen Innehalten und kurzem Zur-Ruhe-Kommen im Alltag bis hin zu umfangreichen Retreats, durch die vielfältige Verwirklichungen und Fähigkeiten entwickelt werden können. Aus der Leerheit, der reinen Natur der Phänomene, schaffen wir ein reines Objekt, auf das wir unsere Aufmerksamkeit richten, indem wir mit Körper (Mudra), Sprache (Mantra-Rezitation) und Geist (Visualisierung) bei diesem Objekt verweilen, wobei wir uns nicht von gewöhnlichen Konzepten und Geistesgiften ablenken lassen, bis wir auch diese Vorstellungen auflösen und in den natürlichen Zustand des Geistes zurückkehren. Durch die Meditation können wir unseren Geist zur Ruhe bringen, das Leuchten von Liebe und Mitgefühl erfahren und in der Natur eines offenen und klaren Geistes verweilen.
Nachdem man sich einige Zeit mit Meditationen und Inhalten des Buddhismus befasst hat und das eine oder andere über tibetische Meditationen, Vajrayana und die vielen unterschiedlichen Methoden gehört oder gelesen hat, erscheint manches zunächst etwas kompliziert zu sein. Auch die Anwendung von Ritualen oder rituellen Texten, Visualisierungen und Mantra-Rezitation erscheint uns zunächst fremd und vieles hört sich schwierig an. Daher ist es wichtig, die verschiedenen Methoden stufenweise kennenzulernen, entsprechende Erklärungen zu hören, darüber nachzudenken und sie in der persönlichen Praxis nach und nach, entsprechend den individuellen Bedürfnissen, anzuwenden.
Die Methoden des Vajrayana sind besonders für dieses Zeitalter geeignet, in dem man nur wenig Zeit und starke Geistesgifte hat. Sie fassen Aspekte aus Sutras und Tantras so zusammen, dass in einer kurzen Übung viele Ebenen der geistigen Entwicklung enthalten sind. Wenn wir einige Grundlagen und Strukturen sowie den Aufbau und die Zusammenhänge verstanden haben und uns über einige Zeit damit vertraut gemacht haben, können wir uns der Vielfalt der Möglichkeiten dieser Methoden zuwenden und durch unsere Übungen ihre Tiefgründigkeit, Kraft und Wirksamkeit erfahren. Es wird uns nicht mehr schwer fallen, auch andere Übungen im täglichen Leben auszuführen, ergänzende Aspekte einzuordnen und umfassendere Methoden anzuwenden, sodass wir den großen Nutzen dieser tiefgründigen Methoden in diesem kurzen Leben immer weiter vertiefen können.
Dabei ist die Meditation des Avalokiteshvara nicht nur eine Methode, die unabhängig von anderen verwendet werden kann, sondern auch eine Grundlage für alle weiterführenden Übungen des tibetischen Buddhismus, angefangen von den grundlegenden Übungen des Vajrayana (tib. Ngöndro) bis hin zu den großartigen Methoden der höchsten Tantra-Klassen. So ist die Entwicklung von Liebe und Mitgefühl eine Grundlage zur Entwicklung von Bodhicitta (skr.), dem kostbaren Erleuchtungsgeist und dem Wunsch, alle fühlenden Wesen zur Buddhaschaft zu führen. Bodhicitta ist wiederum die Grundlage für alle fortgeschrittenen Übungen des Vajrayana. Neben der Praxis des vierarmigen Avalokiteshvara gibt es auch ein berühmtes Fastenritual (tib. Nyungne), das in Verbindung mit einem 1.000-armigen Avalokiteshvara ausgeführt wird. Auch können wir das Darbringen von Opfergaben und Glück verheißenden Symbolen üben, wie es in den meisten Vajrayana-Methoden enthalten ist.
Weiterhin ist die Visualisierung des Bodhisattva Avalokiteshvara eine Grundlage für die Meditation von Buddha Amitabha (tib. Öpame), die wiederum eine wichtige Voraussetzung zur Praxis des Phowa (tib., Bewusstseinsübertragung zum Zeitpunkt des Todes) ist. Daher ist die Meditation des Avalokiteshvara auch für Praktizierende geeignet, die sich für das Thema Sterben aus der Sicht des Buddhismus interessieren und entsprechende Methoden als Vorbereitung auf diesen Prozess erlernen möchten.