Tara (skr., tib. Dölma), die Barmherzige, die Befreierin (Retterin), ist eine weibliche Form des Buddha, die vor Gefahren und Ängsten beschützt und die Wünsche der fühlenden Wesen erfüllt. Ihr Weisheitsgeist entspricht dem Buddha, ihre Weisheitsrede dem Dharma und ihr Weisheitskörper entspricht dem Sangha. Sie gilt als Schutzpatronin Tibets und die Meditation und Mantra-Rezitation der Tara ist bei den Tibetern sehr beliebt.
In den Texten gibt es verschiedene Darstellungen zur Geschichte der Tara. Eine davon bezieht sich auf ihr Erscheinen in einer weiblichen Form vor vielen Zeitaltern. Zu dieser Zeit wurden die Menschen mehrere tausend Jahre alt, als ein Buddha auf die Erde kam. Damals gab es auch einen König, der ein Anhänger des Buddha war. Er verehrte den Buddha sehr und hat ihn und all seine Schülern viele Jahre unterstützt. Der König hatte eine Tochter und auch die Prinzessin hatte starke Hingabe an den Buddha und wurde zu seiner Anhängerin, die sich sehr der Praxis und der Lehre hingab. Einmal sagte jemand zu ihr: „Weil Du in diesem Leben dem Buddhismus soviel gedient hast und soviel Verdienst angesammelt hast, wirst Du im nächsten Leben bestimmt als Mann wiedergeboren werden und die Erleuchtung erlangen.“ Darauf antwortete sie: „Diese verschiedenen Einteilungen wie gut und schlecht, Mann oder Frau, sind nur eine Illusion, sie sind eine Täuschung. Wenn man Bodhicitta in seinem Geist verwirklicht hat, gibt es keine Unterschiede mehr, denn die Natur des Dharmakaya1 ist frei von solchen Unterscheidungen.“
Weiter erklärte sie: „Jetzt gibt es sehr wenige Buddhas, die auf der relativen Ebene in einem weiblichen Körper erscheinen. Deshalb werde ich in einem weiblichen Körper den Dharma praktizieren und ebenso die Erleuchtung erreichen. Genauso werde ich dann allen fühlenden Wesen helfen.“ Dies sagte sie nicht aus einer arroganten Einstellung heraus, sondern aus einem großen Gefühl von Liebe und Mitgefühl, um allen fühlenden Wesen die Möglichkeit zu geben, sich vom Leiden zu befreien und die Erleuchtung zu erlangen.
Dann praktizierte sie den Dharma für unzählige Zeitalter und schließlich erlangte sie die Stufe der Erleuchtung. Um den Wesen zu nutzen, legte sie das Versprechen ab, dass sie am Morgen und am Nachmittag jeweils eine bestimmte Anzahl von fühlenden Wesen retten wird. So erreichte sie es, durch ihre große Ausdauer einer Vielzahl von fühlenden Wesen auf dem Weg zur Erleuchtung zu helfen. Aufgrund all ihrer Handlungen, die fühlenden Wesen zu befreien, erhielt sie den Namen Tara (skr., tib. Dölma). Tara heißt „Befreierin“, d.h. sie befreit die fühlenden Wesen aus dem Kreislauf des Leidens (Samsara).
Weil ihre Aktivitäten so grenzenlos sind, bezeichnet man Tara auch als Manifestation (Verkörperung) der Aktivitäten aller Buddhas oder als eine Ausstrahlung von Buddha Amitabhas Weisheit, während Avalokiteshvara (tib. Chenresig) die Ausstrahlung von Buddha Amitabhas (tib. Öpame) Mitgefühl ist. Es gibt sehr viele Geschichten über Tara. In manchen Texten wird auch erklärt, dass Tara und Avalokiteshvara (tib. Chenresig) eine enge Verbindung miteinander haben und Tara aus seinen Tränen entstanden ist:
Auch Avalokiteshvara hat aus großem Mitgefühl das Versprechen abgelegt, dass er nicht eher in das Nirvana eintreten wird, solange nicht alle fühlenden Wesen die Erleuchtung erlangt haben. Daher ist es so, dass Avalokiteshvara seit unzähligen Zeitaltern den fühlenden Wesen auf dem Weg zur Befreiung hilft. Als er eines Tages feststellte, dass die Anzahl der Wesen in Samsara offensichtlich nicht abnahm und das Leiden unter den Menschen immer noch groß und unerträglich war, stellte er sich die Frage, was er noch tun könnte. Die Situation der Menschen in ihrem Leiden überwältigte ihn und Tränen traten in seine Augen. Zwei dieser Tränen verwandelten sich in Tara und Bhrikuti, eine andere kraftvolle Manifestation. Tara sagte dann zu Avalokiteshvara: „Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen. Ich werde Dir helfen, den fühlenden Wesen zu nutzen und diejenigen beschützen, die sich vor den Leiden im Samsara ängstigen.“ Deshalb wird sie auch manchmal in den Belehrungen als „Tochter von Avalokiteshvara“ bezeichnet.
Weiter wird gesagt, dass Tara die Grundlage aller weiblichen Gottheiten ist. So heißt es, dass z.B. Mayadevi, die Mutter von Buddha Shakyamuni, eine Ausstrahlung der Tara war. Es gibt viele verschiedene Manifestationen in friedvoller und kraftvoller Form sowohl in Indien als auch in Tibet wie z.B.: Mandarava, eine Gefährtin von Padmasambhava in Indien, und Yeshe Tsogyal seine Gefährtin in Tibet; Gelongma Palmo, die Verfasserin des Fastenrituals (tib. Nyung Ne) von Avalokiteshvara; Machig Labdrön, die Gründerin der Chöd-Praxis; und auch die große Dharma-Schützerin Achi Chökyi Dölma (vgl. Abbildung).
Außerdem gibt es zahlreiche Tara-Manifestationen in verschieden Farben und mit unterschiedlichen Körpern und Attributen, wie sie z.B. in dem ‚Lobpreis der einundzwanzig Taras’ zusammengefasst sind und zum Schutz vor Krankheiten, Gefahren usw. angerufen werden. Diese verschiedene Taras werden in den verschiedenen Tantras erklärt. Das Tara-Tantra gehört zum Anuttarayoga-Tantra, der höchsten Stufe des Tantra.
Tara hat eine sehr große Kraft. Wenn man nur den Namen von Tara hört oder mit Hingabe an sie denkt, kann man von allen acht und sechzehn Arten von Ängsten oder Gefahren, wie z.B. der Angst vor gefährlichen Tieren, vor Dieben, Krankheiten, Katastrophen usw. befreit werden. Diese Ängste symbolisieren verschiedene Geistesgifte. So heißt es, dass das Geistesgift Stolz als Gefahr durch Löwen symbolisiert wird. Entsprechend wird Verblendung mit der Gefahr durch Elefanten, Zorn mit Feuer, Eifersucht mit Schlangen, falsche Ansichten mit Räubern, die Flut der Gier mit Wasser usw. verglichen.
Allgemein kann man sagen, dass durch die Praxis der Tara und die Rezitation des Mantra alle Hindernisse beseitigt werden und man in Sukhavati (tib. Dewachen), dem reinen Land von Buddha Amitabha, wiedergeboren werden kann. Es gibt zahlreiche Übungen in Verbindung mit verschiedenen Manifestationen der Tara, wie der grünen Tara, der weißen Tara, der roten Tara usw., mit einer unterschiedlichen Anzahl von Händen und Gesichtern, in friedvollen und kraftvollen Formen.
Die weiße Tara (tib. Dölkar) ist eine Verkörperung der Buddha-Aktivitäten. Sie betont die Praxis zur Beseitigung von Hindernissen und unterstützt die Lebenskraft.
Letztendlich trägt jede Praxis der Tara dazu bei, die Erleuchtung zum Nutzen aller Wesen zu erlangen. Einige Meditationen sind sehr lang, sodass man sie für längere Sitzungen und Retreats verwenden kann, andere sind ganz kurz und daher besser zur täglichen Praxis geeignet. Entsprechend können Anrufungen wie die Anrufung der 21 Taras oder das Gebet der Sieben Schützerinnen rezitiert werden, um für sich selbst oder für andere positive Kräfte zu aktivieren.
zusammengestellt von Tändsin T. Karuna, DSML 2013