Eindrücke und Gedanken vom Kurz-Retreat mit der Shravasti-Meditation im November 2024
Wir waren ein halbes Dutzend TeilnehmerInnen. Es hätten ein paar mehr sein können; aber so war es eine gute Zahl für ein konzentriertes erstes Kennenlernen der Shravasti-Meditation und für Fragen und Gespräche um die Meditationsübungen herum. Auch die Geh-Meditation durch den Garten ging bei dieser Personenzahl ganz ohne Gedrängel.
„Shravasti-Meditation“ – das ist (noch) keine geläufige Bezeichnung. In Shravasti, im Norden Indiens, hat der Buddha seine ersten Lehrreden gehalten und Unterweisungen zur Meditation gegeben. Dazu gehörten die Lehrreden über die „Vier Grundlagen der Achtsamkeit“ (Satipatthana-Sutra) sowie das „Anapanasati-Sutra“, welches das Gewahrsein des Ein- und Ausatmens in den Mittelpunkt stellt.
Seine Heiligkeit Drikung Kyabgön Chetsang hat besonders die zuerst in Shravasti (daher auch die Namensgebung) gelehrte Atem-Meditation als einen einfachen, aber umfassenden Ansatz zur Schulung des Geistes aufgegriffen und sie durch Lehren und Techniken aus den Traditionen von Vipassana, Zen, Mahamudra und Dzogchen abgewandelt und bereichert. Sein Ziel war es, eine ausgewogene und für unser modernes Leben geeignete Form des Geistestrainings zu entwickeln. Die Shravasti-Meditation ist daher traditionsübergreifend ausgerichtet und wendet sich nicht nur an Buddhisten, sondern an alle, die ihr Verständnis des eigenen Geistes vertiefen wollen, um ihr Mitgefühl zu erweitern und förderliche Bedingungen für das Entstehen von Weisheit zu schaffen.
Konkret gestalteten sich die beiden halben Tage (Samstag 13:00-18:30 Uhr; Sonntag 10-13 Uhr) des „Schnupperwochenendes“ mit Claude Jürgens (Yeshe Metog) als eine Folge von insgesamt sechs Meditationssitzungen von 35- bis maximal 50-minütiger Dauer, aufgelockert durch Gehmeditation, Kaffee-/Teepausen sowie Möglichkeiten, Fragen zu stellen und Erfahrungen auszutauschen. Eingerahmt wurden die Tage durch Gebete zu Beginn und eine Widmung zum Abschluss.
Ich empfand diesen Zeitplan als sehr ausgewogen und die Länge der Praxiseinheiten auch für Menschen, die über keine weitergehende Meditationserfahrung verfügen, gut zu bewältigen. Als eine zentrale Übung hat Claude die „Gewahrseinsmeditation nach dem Anapanasati-Sutra – 16 Übungen verbunden mit dem Ein- und Ausatmen“ mit uns durchgeführt.
Das Gewahrsein auf den Atem wurde dabei in verschiedener Weise mit dem Gewahrsein über die vier bekannten Gebiete der Achtsamkeit (Körper, Empfindungen, Geist, Phänomene) verknüpft. Als Beispiel sei die Übung des „Gewahrseins über den Körper“ herausgegriffen. Sie gliederte sich in folgender Weise, wobei wir jeweils einige Minuten bei jedem der vier Aspekte verweilten:
Gewahrsein über den Körper
- Lang einatmend weiß ich: „Ich atme lang ein.“
Lang ausatmend weiß ich: „Ich atme lang aus“. - Kurz einatmend weiß ich: „Ich atme kurz ein.“
Kurz ausatmend weiß ich: „Ich atme kurz aus“. - Einatmend erlebe ich meinen ganzen Körper.
Ausatmend erlebe ich meinen ganzen Körper. - Einatmend lasse ich die körperlichen Gestaltungen zur Ruhe kommen.
Ausatmend lasse ich die körperlichen Gestaltungen zur Ruhe kommen.
Natürlich konnten wir an einem Nachmittag und einem Vormittag nur einen kleinen Teil der Shravasti-Meditationen kennenlernen, aber wir haben einen guten ersten Eindruck von Aufbau und Ausrichtung dieses ‚Meditationsprogramms‘ erhalten können.
Ich denke, dass die Shravasti-Meditation nicht nur für Neulinge in der Meditation gut geeignet ist, sondern auch für Menschen, die überwiegend mit tibetisch-buddhistischen Meditationen (Visualisierung, Mantra-Rezitation, etc.) vertraut sind. Mir jedenfalls geht es immer wieder so, dass ich feststelle, wie wichtig die ganz elementaren Übungen der Atemachtsamkeit, Geistesruhe usw. sind, nicht nur zu Anfang, sondern immer wieder. Anfang ist eben auch immer wieder.
Wie wichtig das elementare Training ist, wird zwar auch im tibetischen Buddhismus betont, aber – vielleicht – nicht immer berücksichtigt. Insofern kann das Shravasti-Programm eine willkommene Ergänzung sein, zumal S.H. Drikung Chetsang selbst Theravada- und Mahayana-Elemente darin verbindet.
Thich Nhat Hanh schreibt in seinem kleinen Buch „Das Wunder des bewussten Atmens“ (Theseus Verlag), das Claude Jürgens am Wochenende zum Einstieg in das Anapanasati-Sutra empfohlen hat: „Wenn wir die Mahayana-Sutren studieren, sollten wir uns immer wieder den grundlegenden ‚Quellen-Sutren‘ zuwenden und sie in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen suchen. In ihnen sind bereits die Keime aller wichtigen Ideen des Mahayana enthalten. Kehren wir zur ‚Quelle‘ zurück, so erhalten wir ein klareres und fester umrissenes Bild von den Mahayana-Sutren. Wenn wir uns nur von den beiden großen Flügeln des Mahayana-Vogels tragen lassen, fliegen wir vielleicht zu weit weg und verlieren jeden Kontakt mit dem Boden, von dem aus sich der Vogel einst erhob.“ (S.124)
Ganz ähnlich sieht es auch S.H., der eine Entgegensetzung von Theravada und Mahayana für unfruchtbar hält. In seinen Antworten auf die fünf am häufigsten gestellten Fragen zur Shravasti-Meditation sagt er:
„Gelehrte unterscheiden gerne zwischen ‚das ist ein Theravada-Ansatz‘ und ‚das ist ein Mahayana-Ansatz‘. Als Praktizierende sollten wir jedoch nicht so denken. Das Mahavaipulya-Mahasamghata-Sutra, ein Mahayana-Sutra aus dem Kangyur, enthält viele Erklärungen, wie man die Achtsamkeit des Atems übt. Es stellt auch klar, dass diese Ansätze sowohl in der Theravada- als auch in der Mahayana-Tradition zu finden sind. Tatsächlich sind sie auch Teil der Praxis des Vajrayana.“
Und er zitiert an anderer Stelle Jigten Sumgön, der sagt:
„Wenn man nicht weiß, wie man seinen Geist jederzeit mit Achtsamkeit ausrichten kann, sind alle Aktivitäten mit Körper und Sprache nutzlos.“
Im Juni ist Claude Jürgens wieder im Aachener Zentrum und wird ein viertägiges Shravasti-Retreat anleiten. Es gibt dabei drei Möglichkeiten der Teilnahme:
1. Nur am Einführungsabend (Mi.18.06.)
2. Am Schnuppertag inkl. Einführungsabend (Mi.18.06. & Do.19.06)
3. Am ganzen Retreat inkl. Einführungsabend und Schnuppertag (bis So. 22.06., 13 Uhr)
Ein Schwerpunkt des geschlossenen Gruppen-Schweigeretreats von Donnerstagabend bis Sonntag wird wieder das Anapanasati-Sutra sein.
Wir dürfen uns auf diese gute Gelegenheit, unsere Meditationsbasis zu festigen, freuen!
Rolf Blume